Die unaussprechbare Strategie

... den Deutschlands Verantwortung und Ruf schadenden politischen Verzögerer, der dem selbsterhobenen Anspruch einer Führungsrolle für Europa nicht annähernd gerecht wird. 
Und dann gibt es noch die große Gruppe der um neutrale Berichterstattung und Analyse bemühten politischen Beobachter und Sachexperten, die sich immer wieder in der Analyse des politischen Verhaltens des Kanzlers versuchen. Gemeinsam und in der Häufigkeit seines Auftretens schon bemerkenswer ist diesen Analysen, dass sie an irgendeiner Stelle, spätestens bei Frage, ob die Ukraine den Krieg gewinnen solle, erkennen lassen , dass sie aus dem Kanzler nicht wirklich schlau werden. Dass es da hinter den Erklärungen noch etwas ganz Bedeutsames gibt, eine absolute Verschlusssache , über die der Kanzler standhaft Auskunft verweigert.

Könnte es jedoch sein, dass es gerade dieses Unausgesprochene ist, was maßgeblich das Kanzlerhandeln bestimmt und was das meiste, was heute als zauderlich und wenig gut gemacht erscheint, in ein ganz anderes Licht rückt. Eine politische Stimmigkeit entsteht, die dem Politprofi Olaf Scholz ansteht. Um den Kanzler auf die Spur zu kommen, tut man womöglich gut daran, ein politisches Konzept zu identifizieren, was des Kanzlers Ukraine-Politik als Teil eines größeren Ganzen erkennbar macht. Zum Beispiel als Teil einer Europa-und Sicherheitspolitik. Gleichzeitig müsste dieses größere Etwas Aspekte enthalten, die man nicht öffentlich benennen kann oder will.

Bei Beachtung obiger Suchkriterien, dem Aufstellen so mancher politischen Hypothese entlang der Faktenlage und genauso vielen Verwürfen, habe  ich heute eine persönliche Vorstellung von dem , was den Kanzler leitet. Ich könnte auch sagen, für mich gibt es eine Kanzlerdoktrin, die sich auf wenige, dafür umso unumstößlichere Kanzlerwahrheiten konzentriert:

1) Die mit der KSZE und ihrer Nachfolgeorganisation OSZE assozierte Sicherheitsarchitektur für Europa bleibt in modifizierter Form auch trotz oder über den russischen Angriffskrieg hinaus das Konzept einer Friedensordnung für Europa. In diese ist auch Rußland, wenn auch nicht kurz-oder mittelfristig , jedoch perspektivisch unbedingt zu reintegrieren.
2) Deutschland muss unbedingt weiterhin das politische Schwergewicht in der EU bleiben, am besten ihre Führungsnation.
3) Im Zuge des Ukrainekrieges entstehen gerade in Europa neue Allianzen, die die Machtverhältnisse in einer um die Ukraine und andere Staaten erweiterten EU nachhaltig nicht gerade zu Gunsten Deutschlands und Frankreichs als traditionelle Leitnationen verschieben. Brisant wird dieses Element einer neuen innereuropäischen Blockbildung noch dadurch, dass es in diesem „Osteuropablock“ Staaten gibt, die ihre spezfische Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung haben.
4) Die Vision von einem politisch und wirtschaftlich starken und einflußreichem „Vereinten Europa“muss weiter verfolgt werden. Zu diesem Europa der Zukunft gehört auch eine Verringerung der Einflusssphären der USA und des gerade erst ausgescherten Großbritanniens auf die innereuropäischen Entscheidungsprozesse und Angelegenheiten.


Ein solche Vorstellung vom Europabild des Kanzlers und seiner Sicherheitskonzeption bietet für die Erklärung seines Verhaltens bestechende Vorteile. Denn es macht endlich die unerschüttliche Weigerung des Kanzlers sich zu einem Sieg der Ukraine zu bekennen, und stattdesen auf seinem Mantra des Nichtverlierens zu beharren, zu einer logisch daraus folgenden Selbstverpflichtung. Denn passt eher eine starke siegreiche Ukraine zu einem solchen Konzept oder eine schwache, von einem langen Krieg gezeichnete? Sind dem Kanzler bezüglich Ihres Ansehens und Einflusses auf Europa eine USA und ein Großbritannien lieber, welche sich irgendwie mit einem Waffenstillstand, einer Kompromissvereinbarung am Ende eines langen Erschöpfungskrieges arrangieren müssten, oder zwei große und entschlossne Unterstützer der Ukraine , die sich berechtigter Weise den größten Anteil am Sieg der Ukraine auf ihre Fahnen schreiben dürfen. Und das wird Europa und die Weltöffentlichkeit auch genauso wahrnehmen. Auch die lautstarke Auseinandersetzung zwischen dem US-Verteidigungsminister und dem Kanzleramtschef, von der die Medien im Anschluss des letzen Ramsteinstreffens berichteten und welche prompt von deutscher Regierungsseite negiert wurde, könnte so mehr als Verärgerung über den deutschen Pressingversuch sein.
 
Und auch sein „Russland darf mit seinen Zielen nicht durchkommen“, anstelle „Russland muss den Krieg verlieren“ darf man auf dem Hintergrund oben skizzierter Kanzlerdoktrin ruhig wortwörtlich nehmen. „Nicht durchkommen“ meint ja gerade, Russland in der kommenden, nach der Einschätzung des Kanzlers unausweichlichen jedoch auch überwindbaren Interimsära, wo es von einer imperialistischen und revanchistischen Machtclique regiert wird, daran zu hindern, in Länder des ehemaligen Ostblocks einzufallen. Neben einer Steigerung der Verteidigungskraft der NATO ist ein probates Mittel dafür, im Zuge dieses Krieges und der begeleitenden Wirtschaftssanktionen Russland militärisch und wirtschaftlich so zu erschöpfen, dass es dazu über die nächsten Jahrzehnte auch nicht mehr in der Lage ist. Diese Zeit böte dann hoffentlich auch ausreichend Gelegenheit zu dem,  im eigenen friedens- und sicherheitspolitisches Kalkül miteingespeisten Systemwechsel innerhalb der russischen Föderation oder seiner Nachfolgestaaten.

Und warum nicht endlich die Logik, die hinter eine Waffenlieferungspolitik steht , die den Ukrainern gerade nur so viel gibt, wie sie unbedingt brauchen, um zu überleben und  welche  die Befreiung von Territorien zu einem waghalsigen Unterfangen macht, als das bezeichnen, was sie de facto vor allem ist : Als zentrales Element einer Zermübungs- oder Erschöpfungsstrategie. Und diese zielt dabei bewusst auf beide Kriegsparteien.
Und auch sie passt erschreckend zutreffend zur oben skizierten Europa-und Sicherheitsdaoktrin des Kanzlers. Eine Eskalationsvermeidungspolitik ist sie entgegen aller öffentlichen Beteuerung ganz sicherlich nicht. Bestenfalls war sie es in den ersten Kriegswochen. Spätestens im Kriegsverlauf ist dem Kanzler jedoch klar geworden, dass Putins Eskalationsspirale sich nicht an der Art deutscher oder auch anderer Staaten Waffenlieferungen orientiert.

Das wirklich zynische an der Ukrainepolitik des Kanzlers ist jedoch, dass er heute gleichsam eine „Self-fulfilling prophecy“- Politik betreibt, nachdem er selbst noch in dem Moment, als sich abzeichnete, dass die Ukraine eine reelle Chance hat, den russischen Aggressor aus dem Land zu drängen, es vermieden hat, sich in die Reihe der entschiedenen Verfechter eines Lebensrechts, wohlgemerkt nicht nur Überlebensrecht der Ukraine einzureihen. Heute sieht er in einer Verzögerungstaktik und das worauf sie als Kriegsausgang zielt, wohl die einzige Möglichkeit, die bereits beschädigte Reputation Deutschlands in Europa und bei seinen Verbündeten wieder herzustellen. Irgendwann ein Waffenstillstandabkommen als letzter Aussweg aus einem langen Zermürbungskrieg könnte sich dazu doch wohl als später Beleg für eine von Anfang zutreffenden Lageeinschätzung trefflich eignen?! Das, was darüber hinausgeht, ist das Bestreben, die klassische  Europa- und Sicherheitsstrategie der Sozialdemolkratie in eine wieder vom harter Blockbildung und dem Kampf der Systeme gekennzeichnete Welt hinüberzuretten. Die Ukraine und die Ukrainer jedoch begleichen diese Kriegsstratgie des Kanzlers zur Zeit mit einem Mehr an Blut, einem Mehr an Leid und Zerstörung. Das gilt in gewissem Maß auch für die russischen Soldaten sowie ihre Angehörigen. Aber sie sind und bleiben Teil einer verbrecherischen Aggression . Jeder von ihnen – im unterschiedlichen Maße zwar - ist auch mitverantwortlich dafür, mit welchem Unheil gerade ihr Land das Nachbarland überzieht . Und so kann meines Erachtens ihr Leid und Sterben nicht genauso wahrgenommen werden wie das der Überfallenen. 
Und zu letzt: Ist diese Europa- und Sicherheitsdoktrin des Kanzlers nichtvoll von politischen Affronts gegenüber Partnern und Verbündeten und enthält soviel innergesellschaftlichen Sprengstoff, dass man sich versprochen hat, auf keinen Fall darüber zu sprechen?
 

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