Der Telenotarzt

Seit Mitte April 2021 sind hier Telenotärzte für die Berliner Kliniken zwecks Notverlegungen bzw. für die RTW-Besatzungen im Falle von Transportverzichtsentscheidungen - bzw Transportverweigerungen konsultierbar. Livebilder aus dem Rettungswagen – wie sonst für TNA-Systemen üblich – sind für die Berliner Telenotärzte dagegen nicht geplant.

Denn Telenotarzt und sektorale Heilkundeerlaubnis werden nahezu zeitgleich zu Versorgungselementen des Rettungsdienstes. Und die erstere wird die zweite realiter nicht zum Zuge kommen lassen. Denn überall dort, wo der Telenotarzt eingeführt wird, wird dieser den ganz überwiegenden Teil aller Akutfälle in einer frühen Phase übernehmen, bzw. bei Notfällen die Zeit bis zum Eintreffen des Notarztes ärztlicherseits überbrücken. Quantitative Auswertungen der Pilotprojekte belegen dies eindrucksvoll. Für die selbständige Versorgung bleiben den Notfallsanitäter*innen dann nur noch Rettungsdiensteinsätze der NACA-Kategorien 1und 2 und solche Akutfälle, die präklinisch keine heilkundlichen Maßnahmen erfordern.
Das Bedauerliche an den anstehenden Telenotarztsystemen ist, dass eine gute Idee genau zu dem Zeitpunkt auf breiter Fläche verwirklicht werden soll, wo sich wichtige Rahmenbedingungen des Rettungsdienstes verschoben haben und deshalb auf den Einsatz von Telenotärzt*innen verzichtet werden könnte. 
Um diese tragische Ungleichzeitigkeit des Telenotarztes in seinem ganzen Ausmaß nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Telenotarztes. 
Seine Anfänge liegen mehr als 10 Jahre zurück (Machbarkeitsstudie des Aachner des Telenotarztprojektes: 2007-2010) Die Idee stammt somit aus einer Zeit, als es weder das Berufsbild der Notfallsanitäterin, des Nofallsanitäters gab, noch die gesetzliche Option für Standardhandlungsanweisungen der ÄLRD. Mehr noch, zum damaligen Zeitpunkt war die langjährige Auseinandersetzung um eine Reform des Rettungsassistentengesetzes wieder einmal völlig festgefahren und eine Lösung erschien in weite Ferne gerückt.
Hinter der Auseinandersetzung stand schon damals das auch heute noch virulente Strukturproblem des notärztlich freien Versorgungsintervalls. Und die Problematik einer zukünftig nicht mehr ausreichendenden Anzahl von Notärzten kündigte sich an. 
Auf den Punkt gebracht: In jener Zeit bestand die Notfallrettung ausschließlich aus ärztlichen Heilkundler*innen und ihren Assistenten. Sich hier modernste Technik nutzbar machen zu wollen, um mittels eines virtuellen Notarztes den notarztfreien Versorgungszeitraum sehr kurz zu halten, war somit ein hervorragendes Vorhaben. Und mit der Implementierung eines Telenotarztes wäre auch die Rolle und Aufgabe der vor Ort anwesenden Rettungsdienstler ganz klar und frei von rechtlichen Grauzonen geworden : Rettungsassistenten*innen und Rettungssanitäter*innen wären, nun völlig im Einklang mit den in ihren Ausbildungen erworbenen fachlichen und rechtlichen Kompetenzen, die Assisistent(inn)en des virtuell anwesenden Notarztes. Ihre Aufgabe wäre es, das praktisch auszuführen, was Ihnen aus der Ferne aufgetragen würde.

An dieser Stelle soll dabei offen bleiben, ob der virtuelle Notarzt von den Zeitgenossen auch genau so verstanden wurde und  ob daneben nicht auch unternehmerische Interessen für die Erprobung von Telenotarztsystemen von größter Bedeutung waren. So berichtet z. B. die Geschäftsführerin des am Aachener Telenotarztprojekt beteiligten Telemedizinanbieters von „Widerstand in den Reihen der Mediziner, die sich um ihre Position im Rettungsdienst sorgten“. 2014 war es dann jedenfalls soweit. Nach mehreren Jahren der Erprobung ging der Telenotarzt in Aachen in den Regelbetrieb und dies sogar trotz des das zur damaligen Zeit noch bestehendem ärztlichen Fernbehandlungsverbot. 

Wenn jedoch der Telenotarzt in der heute in NRW oder Bayern beabsichtigten Form implementiert wird, wird dies einen tiefen Schatten auf den  Rettungsdienst werfen und voll zu Lasten der Notfallsanitäter*innen gehen. Selbst denjenigen, die gerne ausschließlich im Rahmen klarer Vorgaben ihrer ärztlichen Leitungen eigenständig, aber eben nicht eigenverantwortlich heilkundlich tätig werden möchten, dürfte ihre Reduzierung auf eine rein technisch manuelle Ausführung von Anweisungen aus dem Äther zu weit gehen. So sollte es einen stutzig machen, wenn man in einer Darstellung des Greifswalder Telenotarztprojektes im Auswertungsteil bezüglich der Wahrnehmung des Telenotarztes durch die Beteiligten eine hohe Zufriedenheit der Telenotärzte und der Patienten feststellt, jedoch zu der Wahrnehmung des Rettungsfachpersonals keine Aussage findet. Ich wage hier die Prognose, dass mit jeder Implementierung des Telenotarztes für die Notfallsanitäter*innen ein gravierender beruflicher Statusverlust einhergeht, auch wenn man dies womöglich sich selber nicht einsteht  und vor Dritten bzw. der Öffentlichkeit weiter das Image des Retters bedient. Nicht heute, aber spätestens, wenn sich die Personalsituation wieder entspannt hat, werden bei Lohnverhandlungen oder sogar Höhergruppierungen die Berufsangehörigen dann wieder die wahre Einschätzung des Verantwortungs- und Schwierigkeitsniveaus ihrer Tätigkeit seitens der Arbeitgeber zu spüren bekommen. 
Die Befürworter des Telenotarztes müssen diese Einschätzung, der Telenotarzt werde eine eigenständige, geschweige denn eigenverantwortliche Heilkundeausübung von Notfallsanitäter*innen zu Nichte machen, als unzutreffend oder zumindest als überzogen zurückweisen. Sie müssen weiterhin darauf bestehen, dass der Telenotarzt eine unterstützende Funktion hat. Von dieser würden auch die Notfallsanitäter*innen profitieren. Aber was bedeutet das konkret? Profitieren kann hier nämlich Verschiedenes meinen. Die Notfallsanitäter*innen profitieren, weil sie sich unmittelbar von einem Notfallmediziner beraten lassen können. Sie profitieren weil sie im Rahmen ärztlicher Delegation agieren und so nicht die Verantwortung für das notfallmedizinischen Entscheidungen zu tragen brauchen oder sie profitieren schlicht und einfach dadurch, dass man sie davor bewahrt, nicht latent einer persönlichen fachlichen Überforderung ausgesetzt zu sein. Wobei dass das Argument des Bewahrens eine Stereotype ist , die im Rettungsdienst eine lange Tradition hat und meines Erachtens  in einem äußerst fragwürdigem Junktim von Führungsanspruch, Paternalismus, Erfahrung, Unterstellung und Vorurteil ihre Wurzeln hat.
Aber bleiben dennoch nicht Konsultationsvorteil und  der Delegationsaspekt, die für die Einführung des Telenotarztes sprechen? 
Um diese beiden Aspekte angemessen bewerten zu können, sollte man sich noch mal das Einsatzspektrum des Telenotarztes vergegenwärtigen und zwar nicht nur so wie er intendiert ist, sondern insbesondere auch, wie er sich in den laufenden Projekten und im Regelbetrieb in der Aachener Region tatsächlich darstellt. Es sind zum ganz überwiegenden Anteil die Akutfälle, deutlich dahinter die Überbrückung des notarztfreien Intervalls sowie die ärztliche Begleitung des Interhospitaltransfers, welche das Einsatzspektrum des Telenotarztes ausmachen. Das auch noch intendierte ärztliche Konsil darf man bei dieser Betrachtung getrost vernachlässigen. Es wird von den Notärzten vor Ort realiter kaum in Anspruch genommen(Aachen: 1% der TNA-Konsultationen). Dieses Konsulatationsverhalten der Nötärzt*innen kann man durchaus  auf die Notfallsanitäter*innen übertragen und insofern ist es für die Zutrefflichkeit der Annahme, Notfallsanitäter*innen profitieren von der telenotärztlichen Konsultationmöglichkeit, von beachtlichem Wert. Denn warum sollte dies bei den Notfallsanitätern anders sein? Es besteht kein Grund zur Annahme, dass Notfallsanitäter*innen, die ja gerade für die eigenständige Versorgung von Akutfällen und die selbständige Erstversorgung von Notfällen ausgebildet werden, von der Konsultationsoption signifikant häufiger Gebrauch machen werden.
Bleibt zu guter letzt noch die ärztliche Delegationsmöglichkeit des Telenotarztes zu bewerten. Diese ist zweifellos gegeben und in dieser Hinsicht erfüllt der Telenotarzt voll umfänglich die ihn in gesetzten Erwartungen. Nach Lockerung des ärztlichen Fernbehandlungsverbots ermöglicht sie in einem rechtssicheren Rahmen die intendierte Entlastung der Notärzte von der rettungsdienstliche Akutfallversorgung unter Beibehaltung der Qualität der medizinischen Leistungserbringung.
Zumindest was die Versorgungsqualität betrifft, gibt es somit meines Erachtens keine eindeutige sachliche Überlegenheit eines der beiden Systeme (Telenotarzt versus mehr Eigenständigkeit für die NotSans über Standardhandlungsanweisungen). Einer der beiden  Optionen den Vorzug zu geben, hat deshalb sehr viel mit dem jeweiligen  rettungsdienstlichen Zukunftsentwurf,  bezüglich der Ausgestaltung des Human Faktors* in der Notfalllrettung zu tun.

Gegenüber der Implementierung von Telenotarztsystemen dürfte es die Alternative, über eine Vorabdelegation durch die ÄLRD auf Telenotärzte weiterhin zu verzichten, dennoch schwer haben. Da mögen ihre Befürworter so oft wie sie wollen darauf verweisen, das nicht Telenotärzte, sondern Standardhandlungsanweisungen zu der gesundheitspolitischen Vorstellung des Gesetzgebers nach mehr Eigenständigkeit der verschiedenen Gesundheitsfachberufe und einer davon erwartenden Attraktivitätssteigerung derselben passen. 
Doch der Telenotarzt hat für die heutige Welt des Rettungsdienstes eine ganze Reihe pragmatischer Simplifizierungen anzubieten. Eigenständig von den Notfallsanitäter*innen zu beherrschender Standardhandlungsanweisungen bedarf es dann nicht. Es reicht  wenn die Notfallsanitäter*innen die Behandlungsalgorithmen kennen, an denen sich der Telenotarzt orientiert. 
Auch für die Rettungsdienstträger und ggf. ihre den Rettungsdienst durchführenden Verwaltungshelfer entspannt sich die Situation. Auf den ansonsten auf sie zukommenden tiefgreifenden Organisationswandel, resultierend aus dem erweiterten Aufgaben und Verantwortungsbereich ihrer Notfallsanitäter*innen, kann verzichtet werden.
Und oben auf können sich alle Entscheider von der Implementierung von Telenotarztsystemen einen beachtlichen Imagegewinn versprechen. Mit der Implementierung von Telenotarztsystemen  gehört man ja zu den Machern des allseits geforderten digitalen Wandels. 
 
Die 3 Variante, ein Nebeneinander von SAAs und Telenotarztsytemen, so häufig sie in der Praxis auch zukünftig tatsächlich vorkommen mag, ist für mich keine vertretbare Option. Sie wäre eine völlige Überdimensionierung der Notfallrettung, eine Dopplung der Notfallresponsemittel auf ein und dieselbe Herausforderung. Ein sorgsamer Umgang mit Mitteln der Solidargemeinschaft  bedeutet in diesem Fall, dass man nicht quasi on Top weitere Rettungsmittel kreiert und zusätzlich einsetzt, sondern sich auf die bereits vorhandenen personeller Ressourcen verlässt. 
Bleiben als Leittragende von Telenotarztsystemen einzig die Notfallsanitäteter*innen, die sich eine größere Eigenständigkeit in Ihrer Arbeit wünschen und die beruflich nicht mit der Rolle einer  technischen Gehilfin, eines technischen Gehilfen des Telenotarztes bei der Versorgung von Akut-und Notfällen zufrieden sind. 
Längerfristig leistet sich jedoch womöglich auch die Gesellschaft mit Telenotarztsystemen einen Bärendienst. Welcher junge Mann und Frau wird sich für eine solche Handlangertätigkeit interessieren und gewinnen lassen. Wer bleibt längerfristig in einem Beruf, in welchem individiduelle Erwartungen, in der Ausbildung erworbene notfallmedizinische Kompetenzen und Berufsalltag so weit auseinanderklaffen? Frustration und vorzeitige Abwanderung sind die Folgen und latent vorhandener Zynismus bleibt der Notfallrettung hämischer Begleiter. Wollen wir das? 

Deshalb ist den Notfallsanitäter*innen, ihrem Berufsbild und um einer berechtigten Attraktivität desselben wegen  zu wünschen, dass die Entscheidung der nordrhein-westfälischen Landesregierung in den anderen Bundesländern möglichst wenig Nachfolge findet. Und wenn überhaupt Telenotarztsysteme, dann reicht für ganz Deutschland wahrscheinlich eine Handvoll. Diese können dann die Notfallsanitäter*innen und Notärzte*innen konsultieren, wenn sie wirklich einmal nicht mehr weiter wissen und / oder fachlichen Rat benötigen. Erst dann sind Telenotarztsysteme nicht ein Ersatz, sondern tatsächlich für die  betroffenen Menschen  ein spürbarer Gewinn und eine Qualitätssteigerung in ihrer notfallmedizinischen Versorgung.


 *hier einmal von mir in anderer als der sonst üblichen Bedeutung verwandt 

 




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